Der Film polarisiert: Genialer Schund oder ein furchtbares Meisterwerk?
Achtung! Folgender Text enthält kleinere Spoiler.
Bildquelle: Offizielles Bildmaterial zum Film, von DC Films produziert und von Warner Bros. Pictures vertrieben.
Zuallererst: Ich bin kein Fan der Superhelden von Marvel und/oder DC und kenne mich weder mit der Geschichte noch mit der Lore sonderlich gut aus. Aber ich mag gut gemacht Filme. Joker, der erste Teil, war so einer. Sogar mehr als das: In meinen Augen ein Meisterwerk, perfekt in Szene gesetzt und vertont und mehr als grandios geschauspielert von Joaquin Phoenix. So viele Einstellungen mit so vielen kleinen passenden Details versehen. Regisseur Todd Phillips sagt in einem Making-Of-Ausschnitt, er habe zeigen wollen, wie eine Figur wie Joker entstehen könne. Bewusst sagte er nicht «Der Joker» und ebenso bewusst den Konjunktiv. Er wollte keinen Kanon schreiben, sondern eine andere Seite zeigen. Und dies funktionierte, vielleicht sogar fast zu gut?
Die Fortsetzung «Joker: Folie à deux» wäre nicht nötig gewesen, der erste Film steht gut für sich alleine und gerüchtehalber willigte Todd Phillips nur widerstrebend ein. Ob es nun finanzielle Gründe hatte oder mehr oder weniger subtile Androhungen, dass es sonst wer anders machen würde, oder ob er sich einfach aus Gutmütigkeit doch überreden liess, ist reine Spekulation. Er machte die Fortsetzung, die sowohl von den meisten Kritikern wie auch den meisten Zuschauern in der Luft zerrissen wurde. Er habe keine eigene Vision gehabt, monieren einige. Andere spekulieren und sagen, er habe das als grosses «Leck-Mich»-Projekt geschaffen, aus Trotz in dem er dem Studio den Finger zeigen wolle. Ich glaube letzteres war vielleicht wirklich der Fall, auf eine gewisse Art und Weise. Aber nicht in dem er einen schlechten Film machte, sondern in dem er ein neues Meisterwerk und die einzig sinnvolle und somit perfekte Fortsetzung schuf. In dem er seine Vision inszenierte und nicht was Publikum und Studio erwarteten.
Begeben wir uns auf eine kleine spekulative Reise in den zweiten Teil des Jokers. Nicht im Kontext des DC-Universums und der Comicgrundlage, dazu wird Nerderlei sich noch differenzierte äussern und das analysieren, sondern als eigenständiges filmisches Werk bestehend aus «Joker» und «Joker: Folie à deux».
Ist der Film «Joker» und «Joker: Folie à deux» eine würdige Comicadaption? Nerderlei.de hat sich dem Thema angenommen und analysiert Philipps Werk im Kontext der vorhandenen Comic- und Filmvorlagen:
Filmisch ist «Joker: Folie à deux» wieder überragend. Die Aufnahmen, das Spiel mit Farben, Tiefenschärfe und Licht, genial agierenden Schauspielern, aus denen Joaquin Phoenix wieder exorbitant heraussticht. Lady Gaga spielt ebenfalls makellos, allerdings war ihre Rolle auch nicht so herausfordernd. Für mich ist ein wichtiger Punkt in Filmen immer die Glaubwürdigkeit der Charaktere. Als kleines Beispiel: So sind die Gefängniswärter zwar alles andere als sympathische Menschen, jedoch weit weg von billigen Klischeegestalten die aus reinem Sadismus wahllos alles und jeden rund um die Uhr tyrannisieren.
Bildquelle: Offizielles Bildmaterial zum Film, von DC Films produziert und von Warner Bros. Pictures vertrieben.
Im Film wird viel gesungen, es ist jedoch kein Musical. Die Gesangseinlagen sind ein Ausdruck der Fantasiewelt von Arthur Fleck. Sie transportieren keine Handlung, sondern Gefühle und Empfindungen. Auf diese muss man bereit sein, sich einzulassen. Es ist kein Fakt oder Form einer Exposition, die nach 5 Sekunden narrativer Informationsvermittlung die Handlung voranbringen würde. Wer sich nicht darauf einlassen kann, wird am Gesang und wohl am Film keine Freude haben. Auch wenn es einem gefällt, darf dann trotzdem auch irgendwann das Gefühl aufkommen: Es reicht jetzt mit dem Singen! Selbst Arthur findet das als Ausdruck davon, dass er jetzt aber die Realität wählen will und nicht nur eine Illusion davon.
Und genau darum dreht sich der ganze Film: Um Illusion und Realität. Arthur ist ein Psychopath, ein Schizophrener, doch kommt die Fantasiewelt, in die er gedrängt wird, nicht von ihm, sondern aus der Gesellschaft. Dieser Kniff ist es, den viele nicht mögen werden, oder nicht verstehen wollen, weil es nicht das ist, was sie gerne hätten, weil es nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Im ersten Joker sympathisieren viele mit der Figur von Arthur Fleck als Joker. Er wird schlecht behandelt, man versteht seine Hilflosigkeit, seine Wut, den Wunsch, was daran zu ändern. Der arme Underdog, der aufsteht und was dagegen macht, indem er diejenigen bestraft, die es verdienen. Ein Antiheld ist ja irgendwie immer noch ein Held. Als er die ersten drei reichen Leute tötet, ist die letzte Tötung keine Notwehr, sondern ein kaltblütiger Mord. Irgendwie versteht man ihn, aber das ist nie ein Grund, es gut zu finden. Verständnis und Einverständnis sind verschiedene Dinge. Mehr oder weniger zufällig ist er dabei als Clown maskiert, mit der Folge, dass die Medien ihn als Clownskilller darstellen. Und weil auch die Gesellschaft, die Armen auf der Strasse glauben die Beweggründe nachvollziehen zu können, wird er zum Symbol des Kampfes von Arm gegen Reich. Von den Unterdrückten gegen den urbanen Adel, von den Streetkids, die um ihr Überleben kämpfen, gegen gewissenlose Corpos, die in Saus und Braus leben und sich nicht um die Belange der einfachen Leute kümmern. So wurde der Joker erschaffen, nicht von Arthur, sondern von der Gesellschaft. Und von den Zuschauern, die Arthur als den Joker sehen. Zum ersten Mal fühlt sich Arthur als was besonderes.
Was ist real?
Im zweiten Teil dreht sich dann alles um die Frage: Was ist real, was ist Realität. Was ist Arthur, was ist Joker? Seine Fans, seine Groupies, die den Joker verehren als Symbol des Kampfes gegen die Oberschicht. Vor Gericht geht es darum, ob er nun eine gespaltene Persönlichkeit, Arthur und Joker, oder einfach nur ein Irrer ist.
Arthur ist dies Anfangs wohl selbst nicht klar, denn zum ersten mal in seinem Leben sieht er einen Sinn und Bestimmung für sich, wenn er der Joker ist. Er verliert sich in der Vorstellung des Joker, die von anderen ihm aufgedrückt wird und versucht immer mehr die Rolle einzunehmen, die andere wollen. So wie die Zuschauer wollen, dass ihr Antiheld im Film ihren Vorstellungen entspricht. Bei der Frage nach der Realität, dreht es sich nicht darum, was Arthur als solches empfindet, sondern die Gesellschaft. Welche Realität erschaffen sie nach ihren Vorstellungen?
Bildquelle: Offizielles Bildmaterial zum Film, von DC Films produziert und von Warner Bros. Pictures vertrieben.
Arthur Fleck ist kein Held, er ist ein krankhafter Psychopath. Er ist ein Mörder. Joker ist ein Symbol des Widerstandes. Am Ende realisiert er, dass er nicht Joker ist. Er selbst sieht sich als das, was er ist: Arthur Fleck, der Mann der 6 Leute ermordete. Mit diesem Geständnis an der Öffentlichkeit wenden sich dann auch seine Unterstützer ab, die sich mit dieser Prämisse auch wie sehr viele Zuschauer und Kritiker von dem Filmwerk verabschiedet haben. Niemand will einen psychopathischen Arthur, der seine Mutter im Krankenbett mit einem Kissen erstickt hat. Nein, sie alle wollen Joker, den es nicht gibt. Oder besser: Alle wollen DEN Joker.
Der Film zeigt, wie Helden und Antihelden gemacht werden, und dies gesellschaftskritisch. Nämlich sowohl durch die Umstände, aber auch durch die Medien und die Gesellschaft, die ihre Vorstellungen auf andere übertragen und keine Abweichung dulden, schon gar nicht von denen, die als Projektionsfläche dafür dienen müssen.
Man darf den Film schlecht finden, auch wenn man nicht versteht, warum andere ihn gut finden. Deshalb sind diese Leute keine Möchtegern-Philosophen die zu doof sind um die Banalität des langweiligen Films zu verstehen, der mit den ungeschriebenen Gesetzen der Superheldenfilme und der Lore bricht und in dem wenig Handlung und wenig Action passiert.
Man darf den Film gut finden, auch wenn man nicht versteht, warum andere ihn schlecht finden. Deshalb sind diese Leute keine Ignoranten, die zu dumm sind die geniale Machart und Tiefe des Filmes zu verstehen, der kein typischer Superheldenfilm ist, sondern ein spannendes Psychogramm über die Erschaffung und Zerstörung von vermeintlich übermenschlichen Figuren.
Keine Meinung hat das Recht, sich über die von anderen zu erheben und abweichende Meinungen sind auch kein Grund, über andere herzuziehen. Man kann Meinungen akzeptieren, selbst wenn man es nicht versteht, aber was noch schöner ist, wenn man zulässt, dass man dadurch neue Aspekte, Details und Sichtweisen entdeckt und seinen Horizont erweitert, indem man schon nur versucht, sich in das Gegenüber einzufühlen. Try it!
Eine riesengrosses Danke an die beste und tollste Nerderlei, die mir beim korrigieren und mit viel Zuspruch geholfen hat – und immer wieder hilft, einfach schon nur, weil es sie gibt und die auch meine hyperaktiven Phasen erträgt.
Sie hat auch einen sehr lesenswerten Blog unter www.nerderlei.de
(Und egal wie toll sie korrigiert, ich schaffe es immer Fehler vorbeizuschmuggeln oder neu reinzubringen.)