In Night City muss man sich auch manchmal zwielichtigen Gestalten rumschlagen. Und wer zuerst schlägt… Eine Cyberpunk-Kurzgeschichte von Nastja, der Mox.
Publiziert am 4.11.2020 im Cyberpunk-Forum.com im Rahmen eines Foren-RPG-Spiels mit 3 Forenfraktion (Corpos, Nomads und Streetkids). Die Geschichten dienten als Propagandatexte und ab Teil 2 ist immer eine Filmanspielung dabei.
Liebes Tagebuch
Ich bin wieder zurück in NightCity! So schön die Zeit bei den Nomads auch war, das dauernde Motorengedröhne ging mir doch langsam auf den Keks und der dauernde Aufenthalt unter der freien Sonne hat meinem teuer eingekauften Teint einfach zu sehr geschadet. Die Kundschaft war auch kaum der Rede wert. Deshalb habe ich mir vor ein paar Tagen als noch alle schliefen (das heisst am Vormittag) einen Wagen ausgeliehen und bin zurück in die Stadt gefahren. Den Wagen habe ich auf einem öffentlichen Parkplatz stehengelassen, wo er wahrscheinlich innerhalb von Stunden in Einzelteile zerlegt und verkauft worden ist, die City-Gangs sind da sehr effektiv. Nur mit meinen Kleidern am Leib und einer vollen Sporttasche schlendere ich durch die versifften Seitengassen der Stadt.
Manches ändert sich nie. Der Untergrund macht erfolgreiche Geschäft, die Gangs bekriegen sich, Söldner töten und rauben für Geld, das Gunstgewerbe verdient an den animalischen Begierden der Gutbetuchten und die Polizei ignoriert dies gewöhnlich, solange man das Schmiergeld (oder die Schmierleistung) abliefert und dabei das Leben der Reichen und Mächtigen nicht tangiert wird. Ich muss aber feststellen, dass ich kaum noch wen kenne. Die Mädchen an der Ecke, die Dealer und Söldner, selbst die Nudelverkäufer… alles neue Gesichter. Naja vielleicht habe ich sie auch vergessen, mein Personengedächtnis war schon immer sehr kurzlebig.
Auch die öffentlichen Standplätze sind inzwischen von der Konkurrenz belebt, also ziehe ich durch die Bars und Clubs auf der Suche nach Einnahmenquellen und Unterkunft. Ein Mädchen mit meinen Talenten sollte da ja kein Problem haben.
In der Cantina-Bar werde ich auf einmal von einem schmierigen Typen abgefangen. Unsanft packt er mich am Arm. Es ist einer aus dem Nomadclan, den ich kürzlich verlassen habe. Alle nennen ihn den „Gierigen Bruder“ oder im Gossenslang Gierbro.
«Wo willst du hin, Kleine?» fragt mich Gierbro
«Ich bin nicht klein!» sage ich empört und fahre die Absätze meiner LouboutinCX auf volle 14cm aus. Diese beeindruckende Vorstellung wird nur minimal durch die Tatsache geschmälert, dass ich das Gleichgewicht verliere und auf die Fresse gefallen wäre, wenn mich Gierbro nicht festgehalten hätte.
«Und ich wollte gerade die Sache mit deinem Boss klären», sage ich. «Sag Sabber, ich habe seine Neurostim-Chips nicht und die waren auch nicht in der Sporttasche welche im Auto lagen, dass ich mir ausgelehnt…» Ich verstumme. Mich beschleicht das dumpfe Gefühl, dass dies nicht gerade das beste Verteidigungsplädoyer aller Zeiten ist.
«Spar dir deine Ausreden, dafür ist es zu spät.» Gierbro und schubst mich in eine Sitzecke und nimmt gegenüber am Tisch Platz. «Das hättest du vorher überlegen müssen. Sabber der Hutmacher hat einen so hohen Preis auf dich ausgesetzt, dass jeder Kopfgeldjäger im Land hinter dir her ist. Ich habe Glück, dich als Erster gefunden zu haben.»
«Ja, aber ich habe die Ware wirklich nicht» beteuere ich.
«Wirklich? Wenn du sie mir geben würdest, vergesse ich vielleicht, dass ich dich gefunden habe.» sagt Gierbro.
Rasend schnell überlege ich mir meine Möglichkeiten, entwerfe Strategien zur Problemlösungen, gehe Fluchtrouten und Verteidigunsaktionen durch. Leider war Gierbro nicht der geduldigste. Als ich ein 1-2 Minuten lang nicht antworte, seufzt er und meint: «Sabber ist fertig mit dir. Er hat nichts für Diebe übrig, die seine Ware klauen. Ich bringe dich zu Ihm»
«Nur über meine …» ich beende den Satz nicht, um ihn nicht auf falsche Ideen zu bringen.
Gierbro lächelt süffisant und gönnerhaft. Das habe ich schon immer gehasst und aus reinem Reflex, trete ich zu. Ein 14cm langer gehärteter Stilettoabsatz trifft seine Kniescheibe mit voller Wucht. Gierbro schreit auf, klappt zusammen, schlägt sich dabei deftig den Kopf am Tisch auf und geht KO. Langsam kippt er zur Seite und landet auf dem Boden, alle in der Bar schauen zu uns rüber.
«Ähhh… sorry. Aber er hat zuerst geschossen.» sage ich verlegen. «Also getreten meine ich, also.. ihr wisst schon!»
Ich stehe auf und stöckle unsicher Richtung Ausgang. «Sorry, die Unordnung» sage ich unterwegs zum Barkeeper und raune dann noch leise hinterher «Und wenn du ‘nen Abnehmer für Neurostim-Chips kennst, der soll sich mal bei mir melden.»
Liebes Tagebuch, so hat mich der gewohnte Alltag in der Stadt wieder. Trotzdem, irgendwie fühle ich mich gar nicht mehr als Streetkid und als Nomad schon gar nicht mehr. Ich glaube… ja, ich glaube ich bin einfach ich selbst. Und das gefällt mir!
Aber nun gehe ich erst mal einen Mechaniker suchen, der den Einzugsmechanismus meiner Absätze repariert.